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Kontingenzerfahrung “zwischen den Jahren”

„Zwischen den Jahren“ – dieser unsägliche Ausdruck für den seltsamen Schwebezustand nach Weihnachten und vor Silvester. Schon vor Weihnachten spürt man die eiskalten Ausläufer dieses Nichts an der Schnittstelle zweier als ganz oder rund empfundener Einheiten. Nur schwerlich kann man sich dem Zwang entwinden, ins Nachdenken zu verfallen. Darüber, was war, und darüber, was sein wird.

Weihnachten

Am Anfang dieser Phase des Windens und Konfrontiert-Seins steht Weihnachten. Traditionell ist Weihnachten die Zeit im Jahr, die man mit Menschen verbringt, die nur die halbe Wahrheit kennen. Sie erinnern uns und nennen das kennen. Sie erinnern uns in Bildern der Kindheit, der Adoleszenz und des Halbgaren. Verständlich also, dass Eltern einen nie oder äußerst selten als Erwachsene wahrnehmen, denn in Erinnerungsbildern gibt es diesen Schlussakkord der Sozialisation nicht. Das selbst gewählte und eigenverantwortlich geführte Dasein jenseits des Elternhauses ist ein blinder Fleck in der Wahrnehmung der Eltern. Das ist aus vielen Gründen gut so, macht die Feiertage aber nicht minder seltsam, denn in der Begegnung mit jenen, die Schichten der Persönlichkeit kennen, die man gerne als überwunden betrachtet, entsteht ein Riss in der Selbstwahrnehmung. Nur selten ist erinnertes Selbst in der Fremdwahrnehmung mit direkt erlebtem Selbst im Präsenz zur Deckung zu bringen. Äußerungen wie: „ Rotkraut mochtest du ja noch nie.“ oder: „Weißt du noch, wie du als Kind an Weihnachten immer Blockflöte gespielt hast?“, sind nur leise Andeutungen dieser Unvereinbarkeit von Fremd- und Selbstbild unterschiedlicher Epochen.

Gut ist es, weil die für den Reifungsprozess notwendige Loslösung aus dem Ursprung hin zu einem selbstbestimmten Dasein so erst ermöglicht wird – weniger gut, weil die ohnehin schon sentimental aufgeladenen Feiertage einen verfremdenden Effekt haben können, von dem Brecht nur träumen konnte. Das Rollengefüge scheint nicht mehr plausibel, die Geräusche, Gerüche, Floskeln und Gewohnheiten werden vom Körper zwar erinnert, fügen sich aber nicht mehr in das eigene Weltbild und gerinnen so zur bisweilen äußerst amüsanten Farce. Humor gehört zu Weihnachten wie Zimtsterne und kalte Füße am Glühweinstand.

„Zwischen den Jahren“

Allein die Bezeichnung mutet schon halbseiden an. Zwischen etwas – das ist weder hier noch dort, weder Fisch noch Fleisch. Das ist irgendwo im Nirgendwo. Wie soll man mit diesem Dazwischen umgehen? Mit einem bleiernen Bein noch in den weihnachtlichen Nachwehen des alten Jahres steckend, das andere schon zaghaft tastend ins Ungewisse des neuen Jahres vorschiebend. Man stelle sich diese Position bloß einmal bildlich vor!

Da fängt man an zu Rekapitulieren, Reflektieren, man denkt über sich und die Welt in Retrospektive nach. Was war gut? Was war nicht so gut? Bei welcher Gelegenheit hat man gelernt, versagt, gesiegt, geliebt, gehasst, geweint, gelacht? Was ist neu und was wird man wohl sein Leben lang so machen?

Im Fernsehen läuft ein Jahresrückblick nach dem anderen, Shows darüber, wie man am besten seine guten Vorsätze über die Silvesternacht hinweg rettet und Berichte über die größten Silvesterparties rund um den Globus.

Keine Phase eines gewöhnlichen Jahres wirft einen so auf sich selbst zurück wie der kleine Zwischenraum am Ende. Doppelgesichtig blicken wir in beide Richtungen gleichzeitig bis es endlich soweit ist:

Silvester

Der unvermeidliche Countdown beginnt. Voll freudiger oder auch banger Erwartung steht man nun da – entweder im Kreise lieber Menschen, im Getümmel vermeintlich gleichgesinnter Anonymer oder auch alleine im stillen Kämmerlein. Noch zehn Sekunden bis die Bombe platzt – neun  – acht – sieben – sechs –  fünf – vier – drei –  zwei – eins – Böller, Gebrüll, Feuerwerk, und?

Nichts.

Der nächste Spiegel liefert den Beweis für das merkwürdige Gefühl der Enttäuschung: Ich bin immer noch derselbe Mensch und führe immer noch dasselbe Leben. Absolut nichts hat sich verändert und das Universum steht auch nicht Kopf. Kontingent daran ist, dass es ist, wie es ist, aber genauso gut auch anders sein könnte und letzten Endes auch völlig wurscht ist. Dass ich heute hier stehe und nicht woanders ist das Resultat unzähliger Scheidepunkte, die mir im Laufe eines Jahres begegnen. Ständig trifft man Entscheidungen, die die Richtung bis zur nächsten Entscheidung vorgeben. Ich schreibe täglich meine Geschichte, wohlweislich, dass die Zwischenbilanz bis hierhin auch ganz anders klingen könnte.

Aber dem fliegenden Spaghettimonster sei Dank sind wir nicht dazu verdammt, im Sud des ewigen Konjunktiv zu köcheln. Schon bald nach Neujahr neigen sich die kalendarischen Herzrhythmusstörungen dem Ende und mit dem gleichmäßigen Schlagen des gewohnten Trotts können wir uns wieder dem hypnotischen Sog des Alltags hingeben und aufhören, über die Sinnhaftigkeit des morgendlichen Zähneputzens nachzudenken.

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