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Der Mann von vorgestern – Von der Freude, gelegentlich anachronistisch zu sein

Obwohl ich den Anschluss an die digitale Moderne nicht gerade verpasst habe, empfinde ich es immer noch als größte Freude, Dinge analog zu besitzen oder mich völlig anachronistisch zu gebärden (siehe auch hier). Anfang der Woche etwa begab ich mich zum Marburger Schloß, um dort des Nachts ein paar Photos mit meiner uralten, aber umso schöneren ME Super zu machen. Und nein, ich bin nicht irritiert davon, dass ich nicht weiß, ob ich einfach 36 Bilder in den Sand gesetzt habe oder ob diese Bilder des verschneiten, nächtlichen Marburg etwas geworden sind. Ganz im Gegenteil, ich empfinde geradezu eine Vorfreude darauf, die Bilder nächste Woche im Drogerieladen abholen zu können und mich überraschen zu lassen. Dieses Gefühl kann man mit schnöden Speicherkarten nicht erzeugen, definitiv nicht.

Ähnlich verhält es sich mit der Musik. Zwar besitze ich eine ansehnliche Sammlung auf meinem Rechner, doch dient diese lediglich dazu, mein iPhone mit Alben für unterwegs zu bestücken. Ich käme niemals auf die Idee, die dort gespeicherte Musik übern Rechner anzuhören. Dafür gibt es eine Stereoanlage und die dazugehörigen Tonträger. Ja, ich gebe beschämt zu, dass ein größerer Teil davon aus CDs und nicht aus Platten besteht, das ist jedoch eine Sache, mit der ich mich immer wieder schwertue. Denn eigentlich möchte ich alles nur auf Platte besitzen.

Letztens bekam ich von einer Freundin zwei Plattenspieler mitgebracht, die ich mit kindlicher Begeisterung in Betrieb genommen habe. Stundenlang klickte ich mich durch diverse Foren, um herauszufinden, warum die 35 Jahre alte Anlage denn nun nicht anlaufen mag, um  schließlich nach etwas Bastelei das Teil um halb drei in der Nacht zum Laufen zu bekommen. Selten war ich begeisterter als zu diesem Zeitpunkt. Sofort legte ich die in einem äußerst obskuren Plattenladen in Kiel erworbene Original-Beatles-Single von “Love me do” auf und hätte herumhüpfen können vor Glück.

Hätte ich dieselbe Freunde empfunden, wenn ich die erste Beatles-Single im iTunes-Store gekauft hätte? Wohl nicht. Obwohl es – nebenbei bemerkt – natürlich grandios ist, dass sämtliche Beatles-Alben nun dort erhältlich sind. Das Abholen meines Rechners im Apple Store von einer Reparatur war vorletzte Woche beinahe ein Vergnügen, da die ganze Zeit die Beatles im Hintergrund liefen… zwar digital, aber immerhin.

Dass die Beatles nun auch digital erhältlich sind, erinnert mich übrigens an eine meiner ersten Todsünden – um mal ausnahmsweise in religiöse Terminologie abzurutschen -, nämlich unbändigen Neid. Mein Onkel besitzt nämlich eine dieser einst bei Zweitausendeins erschienen LP-Boxen sämtlicher Beatles-Alben. Früher stand ich beinahe täglich ehrfurchtsvoll vor dessen imposantem Plattenregal, dessen heimlicher Star wiederum eben jene dunkelblaue Box war. Tagaus, tagein stand ich nun – vom Neid zerfressen – davor und wünschte mir immer wieder, dass ich diese auch  besitzen könne. Immerhin wurden mir nach längerem Quengeln diese Platten dann auch nach und nach auf Kassette überspielt, so konnte ich wenigstens einigermaßen besänftigt werden…

Kassetten sind auch so eine Sache, denn ich habe mir vor kurzem wieder ein Tapedeck angeschafft, um mal wieder meine – nur auf MC vorliegende – Dylan-Bootleg-Series 1-3 anzuhören. Dummerweise habe ich sämtliche Kassetten einst entsorgt, die ich besaß. Welch unersetzlichen Schätze sind mir da verlorengegangen? Tapes, die ich einst in unendlichem Größenwahn für jemand aufnahm, mich aber nie traute, diese zu überreichen. Tapes mit obskuren Radiomitschnitten, Tapes mit Compilations für frühadoleszente Reisen…

Die CD, die man für jemanden zusammenstellen möchte, wird sich wahrscheinlich in fünf Jahren von keinem CD-Laufwerk mehr lesen lassen, weil die Beschichtung sich auflöst. Schade drum. Oder vielleicht auch besser so, um sich Sentimentalitäten zu ersparen? Vielleicht sollte man stattdessen mal wieder ein Tape für jemanden zusammenstellen – und dann wird sich zeigen, wieviel man der Person wert ist, wenn diese dafür extra das Kassettendeck aus dem Keller holt…

1 kommentar

  1. Stefan Stefan

    Danke für diesen Beitrag, Andre. Ich konnte direkt mitfühlen …

    Ja, es ist eine Freude, hin und wieder nicht einfach nur auf irgendeine Audiodatei zu klicken und sie zu hören, sondern das Anhören eines Tonträgers wahrlich zu zelebrieren und sich dann – der dunklen Jahreszeit sei Dank – bei Kerzenschein gemütlich aufs Sofa zu setzen und zu genießen.

    Ich habe es neulich sogar noch ein bisschen anachronistischer getrieben und ein altes Tonbandgerät zum Laufen gebracht, das mir ein Bekannter geschenkt hat. Ich hatte noch ein altes Band im Keller, das ich mir – und zugegeben war das damals schon völlig anachronistisch – irgendwann in den 1990ern für geschätzte 18 Mark in Frankfurt bei Saturn von meinem Taschengeld gekauft hatte. Ich entdeckte alte Radiomitschnitte auf dem Band, die mich sogleich dazu brachten, darüber nachzudenken, wie sehr sich doch der Sound und Inhalt des Radios geändert hat – und fand mich gar nicht mehr so anachronistisch. Vielmehr begeisterte mich die Tatsache, dass ich mich mit Hilfe solcher Nostalgie-Momente doch ziemlich genau daran erinnern kann, wie sich die Ton- und Datenträger in den letzten 20 Jahren so gewandelt haben. Eine spannende Geschichte. Und ich war dabei!

    In dem Laden war ich damals übrigens beim Schlendern durch die Regale auf das “Open Real Tape” aufmerksam geworden, weil ich mir dort eine Spiegelreflex-Kamera geleistet hatte, um nicht zu sagen: Ich hatte dort für meine damaligen Verhältnisse ziemlich viele Mark auf den Kopf gehauen und machte fortan ziemlich viele Fotos. Nicht so viele, wie man heute mit der digitalen Kamera macht, schließlich kostet so ein Film samt Abzügen Geld oder das Rahmen von Dias macht Arbeit.

    Aber genau diese Kamera habe ich neulich auch mal wieder herausgeholt. Und damit nicht genug fand ich in der Schublade einen alten Schwarz-Weiß-Film, der theoretisch im Jahr 1997 “abgelaufen” war. Den Anlass, dass ein Freund einen Auftritt in einer Tanzshow hatte, nahm ich für mich zum Anlass, den alten Film einfach mal einzulegen, in schwierigen Lichtverhältnissen schwarz-weiß zu denken und 36 Mal auf den Auslöser zu drücken. Ich fand im Internet sogar ein Fachlabor für die Entwicklung von Schwarz-Weiß-Filmen inkl. Push-Entwicklung zum Ausgleich des hohen Alters des Films und der kolossalen Unterbelichtung – und hatte eine Woche später das durchaus vorzeigbare Ergebnis in den Händen mit Negativ-Filmstreifen, Abzügen auf Fotopapier – und digital auf CD.

    Es ist ja nicht so, dass man auf die Datei auf dem PC verzichten muss, nur weil man mit der alten Kamera fotografiert hat. Ich bin ja nicht anachronistisch … meistens.

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