„Deswegen fahre ich ja mit. Dann können wir überall rumknutschen und der Stadt das ungute Gefühl nehmen.“
Ich sitze am Steuer, kann dich also nur kurz mit meinem Blick streifen. Das ist gut so. Die Fahrt dauert nicht lang, ich fahre sie fast blind, bin mit den Gedanken bei den unzähligen Malen, die ich die Strecke fuhr, weiß um jede scharfe Kurve und jeden Blitzer. Der letzte Kilometer führt eine Anhöhe hinab und eröffnet den Blick auf eine Zeit, die nur erzählt noch irgendwie wahr wird. Die Kirche, in der ich gefirmt wurde. Allerdings kam ich viel zu spät, weil ich im Unterricht nicht zugehört habe und eine halbe Stunde vergebens vor einer anderen Kirche auf meine Leidensgenossen wartete. Auf dem Berg dahinter sind die Garagen der Fahrschule. Mit einem der Motorräder habe ich mal einen zirkusreifen Purzelbaum hingelegt und nur der Tank war danach verbeult. Ein Stück die Straße hinab wohnte mein kroatischer Freund mit seinen Über-Eltern, die uns bis zum Platzen mästeten mit selbstgemachten Spezialitäten vom Balkan.
Wir fahren durch den Ortsteil meiner Jugend, vorbei an meiner Stammkneipe. Jedes Wochenende Billard, tanzen, trinken, manchmal kotzen, heimlaufen. Aber da fahren wir nicht lang. Wir biegen vorher ab, nehmen einen kleinen Umweg, aber das kannst du nicht wissen. Ich sage es dir auch nicht. Stadtmitte. Das ganze Programm: die Penne, das Schloss, der Park, meine Lieblingskirche, die Touristenkirche, Fußgängerzone. Kaffee im ehemaligen Museumsgebäude. Spinnweben zieren die barocke Dekadenz, ein wenig bröckelt der Stuck, der sich im gelben Gewand zu oft geatmeter Luft zeigt. So oft war ich schon hier, hin und wieder mit einem anderen Wir. Nichts hat sich verändert, das Licht, der Klang, die Möbel – sogar das riesige Bild von Peter Henryk Blum hängt noch unter der Decke und auch heute finde ich es schrecklich. Wir küssen viel, reden wenig. Der Kaffee ist leer, wir zahlen und gehen. Eine Station steht uns noch bevor, mein liebster Aussichtspunkt auf einem Klosterberg. Auch dort fahren wir hin und ich zeige dir den Ausblick. Neben uns leidet Christus im soundsovielten Stationshäuschen der Passion. Auf der anderen Seite des Berges liegt das Elternhaus, vom Parkplatz aus kann man es sehen. Winzig ist es, hinter einer Scheune und umzäunt von winterkargen Obstbäumen, die uns Kindern immer als Klettergerüst dienten und geduldig die Hängematten ertrugen. Es gab sie, diese sommerlichen Momente, die so sehr nach Heu dufteten, dass allein der Gedanke daran die Nase kribbeln lässt. Heute liegen viele Zentimeter Schnee auf der kleinen Mauer, auf der ich früher oft saß, den gepeinigten Heiland als Rückenlehne nutzend.
Dein Arm ruht auf mir, ich lege mein Gesicht in die Mulde zwischen Schulter und Brust und sauge deinen Geruch ein.
„Heimat“, denke ich, „was heißt das schon?“
Gib als erster einen Kommentar ab