Über den im christlichen Medienmagazin pro erschienen Artikel „Homosexualität, die neue intolerante Religion?“ vom undefinierbaren Autorenkürzel js
Homosexualität ist wie Heterosexualität eine sexuelle Orientierung, die man verspürt. Es ist das Sich-Angezogen-Fühlen vom gleichen statt vom anderen Geschlecht. Das ist das, was Schwule verbindet, und das, was Lesben verbindet. Was Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transsexuelle verbindet, was sie auf dem CSD zusammenführt, ist nicht mehr und nicht weniger als der gemeinsame Wunsch nach Anerkennung, Gleichstellung und Toleranz. Das ist die geteilte Weltanschauung, der Rest bleibt offen. Es gibt christliche, liberale, konservative, nationalsozialistische, politikverdrossene, agnostizistische, atheistische, chauvinistische, umweltbewusste, kritische, linksradikale, innovative, multikulturelle, aber auch intolerante LesBiSchwule und Transgender. Wie kann eine solch heterogene Gruppe so etwas wie Religion sein?
Ich versuche den Artikel ganz genau zu lesen, um den Vorwurf der intoleranten Religion nachvollziehen zu können. Mir fällt auf, dass die Analogien zur Religion vor allem dann gezogen werden, wenn es darum geht, dass man Homosexuellen attestiert, sie würden keine anderen Meinungen akzeptieren. Absatz 3 gibt einen fast schon selbstreflexiven Hinweis auf das eigene Religionsverständnis, wenn es heißt: „Wie in allen Glaubenssystemen gilt auch hier: Wer die Stirn runzelt, gehört nicht dazu“. Jetzt wird einiges klarer.
Und dennoch: Was sind denn überhaupt die anderen Meinungen, die hier angeblich nicht zugelassen werden? Halten wir fest, dass sich die komplette (nennen wir sie) queere Bewegung ideologisch eigentlich nur in einem Punkt, nämlich dem der geforderten Toleranz und weiterführend Gleichstellung, einig ist. Fremde Meinungen wären insofern Intoleranz, Homophobie, strukturelle Diskriminierung und ähnliches. Und dagegen zu kämpfen ist unbedingt notwendig, gerade wenn man Opfer dieser fremden Meinungen ist (aber auch prinzipiell).
Meinungsfreiheit
Das Problem mit der Meinungsfreiheit ist ja schon immer gewesen, dass jeder seine private Meinung haben darf und dürfen soll, dass es die private Meinung als solche aber prinzipiell nicht gibt, weil sie in einer Gesellschaft niemals isoliert sein wird und immer auch in jeglicher Art von sozialer Interaktion oder Kommunikation zu Tage tritt, Einfluss nimmt und also auch diskriminieren kann. Manche Meinungen sind im öffentlichen Raum nicht ohne Grund gesetzeswidrig.
Ein weiterer Grund, weshalb der Autor des Medienmagazins pro und/oder/beziehungsweise der fast ausschließlich zitierte „Weltwoche“-Kulturchef Philipp Gut von einer Religion der Homosexualität ausgehen, ist die Tatsache, dass die in Deutschland noch bis vor 15 Jahren unter Strafe stehende sexuelle Orientierung derzeit aus vielerlei Kreisen Unterstützung erhalte. Um einige, nennen wir sie hochranginger Persönlichkeiten aus Politik und Medien entwickele sich diesertage gar eine Art Kult, die religiöse Züge annehme und auch in Schulen Einzug fände. Philipp Gut wird erneut zitiert, wenn er von „Homosexualisierung der Gegenwart“ spricht.
Fazit
Ich weiß nicht, woher die Autoren ihre Informationen bezüglich der Nicht-Existenz von Diskriminierung, gar von der „Priviligiertheit“ von Homosexuellen haben. Es mag Annäherungen an Gleichstellung auf dem Papier und in der Öffentlichkeit geben, in den Köpfen der meisten Menschen hat sich diese Akzeptanz aber noch lange nicht verfestigt. Homosexuelle spüren dies täglich am eigenen Leib und in der eigenen Familie auf verschieden ausgeprägte Art und Weise. Dass die Autoren dennoch von der Priviligiertheit Homosexueller ausgehen, kann zwei Gründe haben. Entweder sind sie wirklich sehr naiv und fast ein bisschen süß oder aber es steckt eine sehr intelligente Strategie hinter der Argumentation. Homosexuelle, die für ihre Rechte kämpfen, protestieren natürlich gegen Meinungen, die ihre Rechte gefährden. Man könnte sie also als intolerant gegenüber der „Meinung“ Homophobie bezeichnen, genau wie man Antifaschisten als intolerant gegenüber der „Meinung“ Faschismus bezeichnen kann. Aber sollte man ihnen dies vorwerfen? Ich denke mal nicht.
Wieso die queere Bewegung so wütend und vehement gegen zweifelhafte Veranstaltungen der Deutschen Evangelischen Allianz auf die Straßen geht, die man erstens als religiöse Minderheit und zweitens als per se uneinsichtig, weil auf der „völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität“ der Bibel beharrend, bezeichnen kann, ist dann nachvollziehbar, wenn man sich deren Überzeugungen vor Augen führt: „Praktizierte Homosexualität wird als unvereinbar mit der biblischen Ethik angesehen.“ Und da Mission bei Allianz-Evangelikalen einen ganz besonderen Stellenwert hat, die man in Netzwerken in Politik, Schulwesen oder wie hier in den Medien, im Christlichen Medienmagazin pro, mit sehr viel Leidenschaft betreibt, ist diese kleine, aber höchst aktive Bewegung mit ihrer grundsätzlich homophoben Überzeugung eine durchaus ernstzunehmende Opposition. Und die wütenden, aber auch ängstlichen Proteste sind dann irgendwie verständlich. Vielleicht ist es Paragraph 175, dessen Spuren einem auch nach 15 Jahren noch eiskalt den Rücken hinunter laufen.
Hallo, ist zwar ein bisschen spät, aber wenn es Dich noch interessiert: hinter dem Kürzel js verbirgt sich Jörn Schumacher.