Und auch der fünfte Versuch, einen Jahresrückblick zu schreiben, endet eine halbe digitale Seite später mit denselben Shortcuts: Strg+A; Entf. 2010 gibt sich sperrig und sträubt sich vehement gegen mein festnagelndes Getippe auf der Tastatur.
Der Blick aus dem Fenster neben meinem Stammplatz in der Küche zeigt das ewig gleiche Ensemble und ich denke, dass ich diesen vermeintlich tristen, für Grafiker-Augen aber wunderschönen Anblick einst vermissen werde. Wann auch immer und wo auch immer. Und während die Augen den Linien folgen, Formen finden und Texturen untersuchen wird mir klar, dass man nicht nur den empfundenen Mangel eines nicht mehr vorhandenen Bildes antizipieren kann, sondern auch, dass man Vergangenes oft (oder immer?) in Bildern und den damit verknüpften Emotionen erinnert. Darum sei der sechste und letzte Versuch eines Jahresrückblicks den Bildern gewidmet, die 2010 so einzigartig machten.
In wahlloser Reihenfolge und ohne nähere Erläuterung:
Wer ihn kennt, weiß, dass er nie lächelt, geschweige denn Blickkontakt halten kann. Aber heute, während die Frühlingssonne durch die großen Fenster der Turnhalle hereinscheint und alles in dieses milde Licht taucht, lächelt er, tobt ausgelassen mit seinen neuen Freunden und stellt sich geduldig den Fragen der Fremden, die sein Plakat anschauen. Ein Hauch Normalität weht durch die Halle, aber die aus der Entfernung beobachtenden Ersatzmutteraugen wissen von klein wirkenden Schritten, die in Wirklichkeit Siebenmeilensprünge sind.
Funktionale Bücherregale, wahrscheinlich aus den späten Sechzigern, flankieren die Sitzreihe mit grauen Tischen und unbequemen Stühlen. Hier und da türmen sich verlassene Bücherberge auf und Verzweifelte mit Kopfhörern nagen neurotisch an ihren Fingernägeln. Die Fensterreihe lenkt den Blick weg vom mahnenden Bildschirm hin zum Schlosshügel dieser kleinen Stadt, die sich gern so groß und weltmännisch gibt. Darunter ameisenhaftes Gewusel strebsamer Menschen, die in das Gebäude hineinströmen, aus dem man selbst gerade herausschaut. Das Domizil für wenige Monate, das eigentlich Disziplin verheißt und doch nur das Warten auf die gesellige Mittagspause mit sich bringt.
Wasser, Sonne, Schilfgewächs und Schwäne. Inmitten dieser Idylle eine goldene Box, der Deckel auf den hölzernen Dielen eines Bootes. Beine, die die Box umklammern, darin eine Hand in kreisender Suchbewegung. Weißgräulich bestäubt kommt sie wieder zum Vorschein. Geballt, den Griff lockernd, den Inhalt rieselnd in das Wasser entlassend. Wolken am Himmel mit vereinzelt durchbrechenden Sonnenstrahlen. Ein finaler Abschied, ein gelöster Knoten.
Die zornigen Gesichter von David und Goliath spiegeln Wut und Ratlosigkeit, die von den Armaturen der kleinen dunklen Küche reflektierten Schallwellen bohren sich in feine Haarrisse, die die Jahre bisher unbeachtet an der feinen Substanz nagten. Etwas zerbricht und landet in tausend kleinen Scherben auf dem schwarzen Boden dieses plötzlich so winzigen Raumes, umkränzt von den reglosen Füßen der Fassungslosen.
Ein grauer Umschlag aus Recyclingpapier, überreicht an einem Montag. Die Handschrift darauf unverwechselbar, abgespeichert noch in Kindestagen. Ein Gruß aus der Vergangenheit, Bildkaskaden, Atemnot, einbrechende Knie. Man kann auf etwas gespannt und ängstlich warten und merkt es erst, wenn sich die lähmende Starre der Ungewissheit zu lösen beginnt.
An den großen Glastüren, die sich nur in eine Richtung für die Heimkehrer öffnet, drücken sich Kinder die Nasen platt. Die karge Halle mit dem blankgeputzten Boden dieses Militärflughafens im Kölner Hinterland ist voller Menschen, die gespannt auf ihre Liebsten warten. Hinter dem Glas setzt Bewegung ein und Männer in beigen Uniformen schreiten gen Schiebetür, die sich mit einem Zischen öffnet. Ihre schweren Schuhe beflecken den makellosen Boden mit fremdem Staub. Ihre Gesichter ähneln diesem Bild des befleckten Bodens, Freudestrahlen unter einer dünnen Schicht – was? Müdigkeit oder gar Entfremdung? Oder ist es nur die kurzzeitige Betäubung durch die Parfümwolke der Frauen, die von entbehrungsreichen Zeiten spricht?
Über das violette Autodach hinweg fällt der Blick auf das vertraute Lächeln, gerahmt von dunkelrot gefärbtem Haar. Zaghaftes Winken, müde Augen von der Anstrengung, doch an den Rändern bricht sich Neugier Bahn. Im Hintergrund türmt sich die monströs wirkende Häuserschlucht. Ein altes Bild in neuem Kontext. Eine neue Ära in alten Seilen.
Über dem mit weißen Zierkieselsteinen bedeckten Boden hat man Holzstege gebaut, die den Gang durch den kleinen Innenhof lenken. Dünne Birken recken sich gen Himmel, deren Blätter sich leise raschelnd im Wind wiegen. Streunende Augen tasten Häuserwände ab, die die Friedlichkeit einkesseln und vor dem Getümmel jenseits der Tore schützen. Sie bleiben haften an dir, wie du da stehst, die Hände in den Taschen deiner tiefsitzenden Jeans. Der Wind spielt mit deinem weißen Hemd und fährt mit kräuselnden Fingern durch dein Kupferhaar. Bisher zaghafte Gedanken reifen in Windeseile zu einer Erkenntnis mit der Wucht einer Ohrfeige mit der flachen Hand.
Kerzen tauchen diesen sonst viel zu sterilen Raum in warmes Licht, das behäbige Schatten an die weißen Wände wirft. Am kitschig in Grün, Gold und Weiß gedeckten Tisch türmt sich das Weihnachtsessen, vier Köche erheben die Gläser und stoßen an auf sich und das, was da kommen mag. Am Klirren der Gläser brechen sich Gedanken der Dankbarkeit und Zufriedenheit …
… und am Ende des Tages, oder auch am Ende eines Jahres, ist es wohl das, was in Erinnerung bleibt.
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