Heute Mittag bekam ich einen Anruf. Der Klassenlehrer. Der Hausmeister einer benachbarten Schule will gegen den Jungen und seine Kollegen Anzeige erstatten wegen Beleidigung. Und wegen Müll. Der Hausmeister hat sich an den Schulleiter gewendet, der wiederum stellte die Jungs zur Rede und nun droht also Anzeige, weil die Kids sich nicht einsichtig zeigten. Welche Worte nun gefallen sind, weiß keiner. Weder der Klassenlehrer, noch der Junge, weil er sich – wie er sagt – zur Tatzeit im hinteren Bereich des Schulhofs befand. Als gutes Elternteil bin ich geneigt, ihm zu glauben. Die Schulhöfe am Ufer sind nachmittags geöffnet, da gibt es Basketballkörbe und Tischtennisplatten, eine Wippe und was weiß ich noch alles. Am Telefon meint der Klassenlehrer, die Jungs hätten „da wohl rumgelungert“ und da sei der Hausmeister also beleidigt worden … irgendwann vor zehn Tagen in etwa.
Soweit die … ähm … Sachlage.
Schon seit einer Weile beobachte ich mit Argwohn eine Entwicklung, die ich nicht ganz scherzhaft „Boot Camp für die Klon-Armee“ nenne. Im Endeffekt ist Kindheit und Adoleszenz heute nicht viel mehr als das. Anpassung ist IN.
Die Liste der Dinge, die Kinder und Jugendliche heute nicht dürfen ist enorm. Sicher, halbvolle PET-Flaschen in die Luft zu werfen, damit sie auf dem Boden zerplatzen und das lustig zu finden ist – zugegeben – etwas unkreativ. Wir hatten früher immerhin Luftballons, füllten sie mit Wasser, bewarfen uns gegenseitig und fanden das furchtbar witzig. Auch nicht sonderlich kreativ und mitunter sogar schmerzhaft. Nun gut, die Zeiten waren damals anders, sagt man dann immer.
Aber weiter: Müll. Die Kids hinterlassen Müll. Macht man das? Sicher nicht. Dass die logische Schlussfolgerung sein soll, sie ganz und gar vom Schulhof zu verbannen, ist dann also diesem neuen Zeitgeist geschuldet. Sie deswegen anzeigen zu wollen wohl auch.
Stellt sich mir die Frage, wann uns bloß die erzieherische Kreativität abhandengekommen ist? Nicht nur in diesem Fall scheint es mir, als sei man sich für echte Erziehung zu schade und bediene sich lieber der bösen Schwester Kriminalisierung. Soll sich doch die Polizei drum kümmern. Man könnte die Kids stattdessen auch gemeinschaftlich zu einer Aufräumaktion verdonnern, das wäre altmodisch, aber immerhin mit ein wenig erzieherischem Impetus versehen, von wegen Ursache-Wirkung-Prinzip und so. Oder man bildet sie, zeigt ihnen zum Beispiel die Doku „Plastic Planet“ und ermöglicht ihnen ein bisschen Reflektion über das Material, das sie so sorglos rumschleudern. Veranstaltet das möglicherweise sogar so – und jetzt wird’s wahnwitzig – dass sie Spaß daran haben und startet eine städteweite „Free Marburg from Plastic“-Aktion. Aber ach, das müsste man ja organisieren und dann müsste man sich auch noch mit „denen“ beschäftigen, die nachmittags bei Sonnenschein nichts Besseres zu tun haben als draußen „rumzulungern“.
Apropos Rumlungern. Da ist schon die nächste Baustelle: Räume. Räume in der Stadt. Räume in der Stadt, wo Kids machen können, was Kids machen wollen. Basketball spielen zum Beispiel. Muss ich da wirklich ins Detail gehen? Und seit wann nennt man die Gruppenpräsenz von Jugendlichen in einem solchen Kontext Rumlungern? Heißt: Nachmittag, Sonne, Basketballkorb, Basketball, 5 Jungs. Oder anders: Seit wann traut man Minderjährigen nicht mehr zu als das? Die Grundannahme, Jugendliche seien von Natur aus „up to no good“ nur weil sie – oh Wunder – kein Buch, sondern einen Ball oder – oh Sünde – gar nichts bei sich haben, ist zwar nicht neu, aber mit relativ neuen, verheerenden Konsequenzen geziert. Wenn sie dann noch eine Flasche Bier in der Hand haben, ist’s ganz vorbei.
Wer einmal negativ auffällt, ist gänzlich verloren. Was soll aus dir nur werden, Junge? Erinnere ich mich an mich selbst in dem Alter, leuchtet mir auch das nicht ein. Und ich wette, all den Hausmeistern und Lehrern und Rektoren und Polizisten und Verkäufern und Passanten und allen, die über dreißig sind, geht es ganz genauso. Mit dem Unterschied, dass das bei uns nicht gleich globalen Fatalismus zur Folge hatte. Man bekam Ärger, vielleicht sogar Hausarrest, die Noten waren auch mal ein, zwei oder drei Jahre schlecht, vielleicht blieb man sogar mal sitzen, aber irgendwie hat’s doch zum Hausmeister, Lehrer, Rektor oder Polizist gereicht.
Irgendwo entlang des Wegs haben wir unsere Unterscheidungsfähigkeit verloren. Wes Geistes Kind wir heute sind, mag ich gar nicht erörtern, wohl aber die nächste Frage aufwerfen: Welche Art Menschen wollen wir da eigentlich heranziehen? Den gehorsamen, unterwürfigen Peak-Performer mit reinster Weste und gänzlich ohne Revolution in den Knochen, weil er im wahrsten Sinne des Wortes Angst um sein hehres Leben hat? Ohne Profil, Meinung und Rückgrat, dafür aber mit der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft eines Duracell-Häschens? Gegenfrage: Wer von uns ist denn so? Von wegen Wasser predigen und Wein trinken oder besser: Wein predigen, von Weinbau aber keine Ahnung haben.
Mir scheint, wir schreiben heute schon die Grabsteine von Übermorgen, ohne diese Prinzipien auch auf uns selbst anzuwenden:
Er hat PET-Flaschen zerdeppert.
Er gab Widerworte.
Er kannte Cannabis aus eigener Erfahrung.
In Französisch hatte er nur geradeso eine Vier.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Gevatter Hartz ihn holt.
Als meine Schulzeit vorbei war, fragte mich ein Lehrer, was ich jetzt machen wolle. „Erstmal Urlaub!“, war meine Antwort und ich habe dabei fett gegrinst. Mehr wusste ich nicht und mehr wollte ich nicht. Ich war auf Rhodos und es war schön. Ich habe Unmengen Bilder gemacht, bin Roller gefahren, bin geschwommen und habe viel getanzt. Aber vor allen Dingen hatte ich nicht einen einzigen Augenblick lang Angst.
Das hingegen ist ein Geisteszustand, den die Kids heute zur Genüge kennen und mir scheint, man gibt ihnen auch Grund dazu. Nächsten Monat muss die Klasse ein zweitägiges Bewerbungstraining absolvieren. Das ist nur eine von einigen solcher berufsorientierter, zukunftsweisender Veranstaltungen in den letzten Jahren. Dagegen gab es nicht einen einzigen Wandertag – wie das bei uns früher hieß. Und wie die zukünftigen Erwachsenen diese neumodische Work-Life-Balance zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohl ihrer späteren Familie fruchtbar praktizieren sollen, wenn sie nicht einmal verstehen, was das bedeutet, ist mir gänzlich schleierhaft.
P.S.: Wäre ich Direktor oder Lehrer hätte ich den Hausmeister gebeten sich selbst zu hinterfragen, warum ihn die wütenden Worte von ein paar Jugendlichen so sehr beeindrucken, dass er sich genötigt fühlt, dieselbe Exekutive zu bemühen, die sich sonst um Kinderschänder, Mörder und Menschenhändler kümmert.
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