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Ein ganzes Leben auf drei Seiten

Das also ist meine Vita. Geburtstort, Schulen, Universität, Praktika, Zusatzqualifikationen, Auslandsaufenthalte. Hobbies? Gehören Hobbies in meine Vita? Soll ich da ehrlich sein? Ich schaue gern fern und rege mich darüber auf. Ich sitze gern in der Sonne. Ich treffe gerne Freunde. Manchmal – selten zwar, aber es kommt vor – betrinke ich mich gerne mitten am Tag. Einfach weil ich es kann. Ich gehe gerne gut essen. Sind das Vita-taugliche Hobbies?

Stattdessen schreiben unzählige junge Menschen Hobbies in ihre Vita, die sie möglicherweise nicht einmal ausüben, geschweige denn mögen. Vielleicht schreibt der angehende Jurist etwas über sein Engagement in studentischen Ausschüssen, die Pädagogin über die Freizeit, die sie mit behinderten Kindern verbringt. Der Medienwissenschaftler schreibt einen Bandwurm unterschiedlichster Kompetenzen auf, dazu gehört unweigerlich die Mitarbeit in irgendeinem Medium. Natürlich beherrscht er auch die gängige Soft- und Hardware – Kamera, Schnitt, Bildbearbeitung, Layout, Office.

Social Networks nutzt der junge Mensch auch gern. Aber allzu sozial – also menschlich – darf es dabei nicht werden. Fotos werden genauestens auf ihren kompromittierenden Charakter geprüft, Kommentare werden durchdacht, vor dem Posten gelesen und gegengelesen. Der implizite Leser wird immer mitgedacht. Und zwischen den Zeilen steht: „Ich bin jung und dynamisch, flexibel, unheimlich kreativ, ich kann arbeiten wie ein Tier und meine Miete bezahle ich mit links. Ich brauche weder Lohn noch Brot, ich bin ein Allrounder. Es macht mir nichts aus, 3 Stunden am Tag im Zug zu sitzen und abends wenn ich heimkomme, brauche ich nur ein schnelles Mikrowellengericht, dass ich beim Erledigen weiterer Agenturarbeiten hinunterschlinge. Meine Weste ist strahlend weiß. An Schlafmangel leide ich nicht, weil ich zu viel feiere, sondern weil ich wie ein Wahnsinniger an meiner Karriere feile, für Sie, für Ihr Unternehmen. Es gibt keine Hürde, die ich nicht nehmen könnte. Wo sehe ich mich in fünf Jahren? In fünf Jahren haben Sie den perfekt konditionierten, äußerst gehorsamen und für das Unternehmen alles aufopfernden Angestellten Ende 20.“

Ein ganzes Leben auf drei Seiten. Mein Leben auf drei Seiten. Trotzdem lässt sich dieses Gefühl nicht leugnen, dass das geschriebene Leben und das empfundene, gelebte Leben nur schwerlich zur Deckung zu bringen sind. Eine Reibung entsteht, die dann offenbar wird, wenn Dinge getan werden, die „gut für die Vita“ sind, aber nicht gut für mich. Vielleicht weil sie mir nicht entsprechen oder weil sie mir bei aller Tauglichkeit partout keinen Spaß machen wollen. Der Eindruck entsteht, dass das empfundene Bedürfnis meines Lebens, wie ich es leben möchte, defizitär ist und den Anforderungen eines modernen Lebens nicht entspricht. Das ist nicht mein Leben auf diesen drei Seiten, das ist zur Schau gestelltes Leben und wer Latein hatte, weiß, dass Prostitution genau das heißt – zur Schau stellen.

2 Comments

  1. DaJunkie DaJunkie

    Domo arigatoo für diesen Artikel. Impliziter Leser oder Schere im Kopf, nenn es wie du willst, alles das selbe. Ich überlege gerade, ob man vielleicht noch nicht ‘das Richtige’ gefunden hat, wenn man sich all zu sehr prostituieren muss.
    Andererseits habe ich das dumpfe Gefühl, dass ich die rauhe, harte, ungerechte Welt noch nicht erleben durfte. Aber bis es soweit ist, versuche ich ‘wahrhaftig’ zu bleiben. Hoffentlich isses mir vergönnt, das nicht ablegen zu müssen…

  2. omnikultur omnikultur

    Sehr schön, wenn man das Dampf Ablassen in eine Form fassen kann. Noch schöner, wenn die Form einen ansprechenden, weil ebenfalls unterhaltenden Stil einhält und so ihr Publikum findet.
    Grüße von omnikultur!

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