Noch tarnt sich dieser Zustand als Urlaub.
Ich hatte mal einen Kunstlehrer, der sehr starr in seiner Auffassung von Kunst war. Unsere Projekte beschränkten sich meist auf das fotorealistische Zeichnen selbstgewählter Stillleben mit Bleistift und je besser man darin war, desto besser fiel am Ende die Note aus, und, desto mehr mochte Herr R. seine Schüler*innen auch. Das war ein sehr minimalistischer Kausalzusammenhang und machte alles, was in diesem Kurs geschah, äußerst berechenbar. Das fotorealistische Zeichnen war keine meiner Stärken und ich verstand auch nicht den künstlerischen Reiz dieser Tätigkeit, schließlich gibt es für diesen rein abbildenden Zweck den Fotoapparat, so mein Gefühl dazu. Aber – und das ist auch heute der Nutzen, den ich daraus ziehe – es beruhigt ungemein. Der stoische Fokus auf Linienverläufe, das Hadern mit Perspektive und Licht, das Versuchen, Scheitern, Versuchen, Scheitern, sich Stück für Stück der Zufriedenheit nähern, während Atem und Puls immer tiefer und langsamer werden.
Herr R. kam nach den Sommerferien nicht wieder. Man teilte uns mit, er sei bei einem Kletterurlaub in den Dolomiten vom Berg gestürzt und tödlich verunglückt.
Hin und wieder verlaufen die Dinge in unfassbar absurden Bahnen, denn der nächste, neue Kunstlehrer hatte denselben Nachnamen, aber dieser neue Herr R. hätte sich nicht mehr von seinem verstorbenen Kollegen unterscheiden können. Ihm war die abbildende Kunst völlig wurscht, er liebte die Freiheit, das Experiment, schmutzige Hände und weite, mutige Gedanken, und, er liebte seine Schüler*innen. Freizügig und unerlaubt verteilte er Werkstatt- und Laborschlüssel und kein einziger Skandal ergab sich aus diesen Vorschusslorbeeren, wohl aber Kunst: Schreckliche, schöne, bittere, traurige, optimistische, mutige, freie und – die beste von allen – befreiende Kunst.
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