Wie oft habe ich schon vor diesem Spiegel bei den Toiletten meiner Lieblingskneipe gestanden und mich gefragt, wer dieses seltsame Wesen ist, das mich da so fragend anschaut. Die Haare mal mehr oder weniger gut gefärbt, mal länger oder kürzer, eigentlich immer in Jeans, die mehr oder weniger eng sitzen, die Spuren des Tages mehr oder weniger an der Tiefe der Augenringe ablesbar, mal mehr oder weniger betrunken. Meist mehr.
Still ist es da oben in den Toiletten, der Gastraum zwar voll, die Toiletten immer leer. Und kalt. Warmwasser gibt es da und Seife aus dem Schlecker wie bei mir zu Hause. Über der Spüle ein wandgroßer Spiegel und an der gegenüberliegenden Wand nochmal so einer, so dass man sich auch von hinten sehen kann. Das Licht über dem Becken ist unerträglich hell, im restlichen Raum schummerig orange. Im Neonlicht betrachtet sieht das Gesicht aus wie eine Fratze, unecht und gemein, egal, wie freundlich man schaut. Dreht man sich um, stimmt der farbige Schein das Antlitz schon milder, kommt der Selbstempfindung näher und beruhigt ungemein, bevor man zurück in den lärmenden Gastraum geht, wo der Rauch in Schwaden gleich geronnener Worte steht.
Seit mehr als fünf Jahren gehe ich auf diese Toilette, immer begleitet vom selben Gefühl. Entfremdung und Wiederfinden in nur einer Drehung, sich seiner selbst ob dessen und der zusätzlichen Kälte und unerwarteten Stille mehr als bewusst.
Wie immer am Jahresende gehe ich auch dieses Mal schon seit Wochen mit dem Gedanken an einen Jahresrückblick schwanger. Und gestern, in diesem seit fünf Jahren wiederkehrenden Gefühl, fand ich ihn dann. Mein Jahr war wie diese zwei Spiegel auf dem Kneipenklo, topographisch auch genauso angeordnet. Ein Grenzgang an den Rändern des Selbst, changierend zwischen zwei Extremen.
Ständig konfrontiert mit Situationen, die die ganze Schlechtigkeit in einem provozieren, Momente, die wollen, dass man ausrastet, schreit, tritt, schlägt, sich Luft macht auf gewaltsame Naturkatastophen- und irreversiblen Schaden anrichtende Art. Neonlichtmomente, die eine Aggression in einem wecken, vor der das letzte bisschen Menschlichkeit verängstigt in die Ritzen kriecht.
Nur eine Drehung weiter fängt einen die altbekannte Milde auf, umhüllt einen mit dem wärmenden Orange des kaschierenden Lichts. Beide Spiegel sind da, ganz gleichgültig hängen sie nebeneinander ab und buhlen nicht um Aufmerksamkeit. Problem ist nur, man muss sich halt drehen.
Und so war das Jahr eine ständige Suche nach dem perfekten Ausfallschritt. In der Vorstellung eine galante Drehung in Wahrheit oft nur ein rettendes Stolpern. Neonlicht fühlt sich nicht gerade behaglich an, sich Luft machen – hin und wieder – hingegen schon. Die Konsequenzen dann wieder nicht. Es gab auch Tage, an denen man stur den Blick gen Boden richtete, Augenkontakt meidende Ausweichmanöver strategisch im gesamten Tag drapiert. Es gibt Menschen, die schaffen es einfach immer, das Schlechteste aus einem raus zu holen, das habe ich gelernt. Sie zu erkennen, in der Hoffnung Schlimmeres zu verhindern, auch. Sie zu meiden hingegen (noch) nicht.
Grenzgänge, die die Integrität strapazierten. Nicht immer geglückt, zugegeben, aber oft drüber nachgedacht, das ist ja auch schon ein Anfang. Es hatte so seine Tücken und Fallstricke das Jahr und trotzdem verging kaum ein Tag, an dem ich nicht herzhaft und ehrlich gelacht habe. Schallend. Nie über, aber immer mit jemandem . Mit Humor geht tatsächlich einfach alles viel leichter.
Und sonst? Gereifter bin ich, ja, das bestimmt. Ein paar Falten hat das Jahr hinterlassen und ein paar Stresspfunde hinzugefügt. Ein paar Nachdenklichkeiten und Erkenntnisse. Partnerschaft und Freundschaft zum Beispiel. Wie selten die sind, echte mein ich. Und wie viel Glück ich doch habe. Wie leicht es ist, sich in Unwichtigkeiten zu verlieren, sich selbst aufzublasen und zu wichtig zu nehmen. Wie schwer es hingegen fällt, sich selbst wichtig genug zu nehmen, wenn es drauf ankommt. Man darf sich selbst nicht im Regen stehen lassen. Die anderen aber auch nicht. Integrität eben. Intuition und Bauchgefühl. Die sind schon da und auch laut, man muss aber auch hinhören, was schwer fällt im Trubel der ganzen Kacke um einen herum. Da läuft man nur morgens am Büdchen vorbei, sieht die Bildzeitungsschlagzeile und selbst die ist lauter als die eigene Intuition. Den Draht zu sich selbst verlieren, das geht schneller als man „Achtung“ rufen kann. Wir rufen sowieso zu selten „Achtung“. Differenz schätzen. Ich kann das auch nicht so gut, glaube aber, dass es wichtig ist.
2012 wird bombe. Vorsätze habe ich keine, man weiß ja mittlerweile, dass das Leben seinen eigenen Rhythmus hat, aber wenn man zum richtigen Zeitpunkt auf den richtigen Wagen aufspringt, braucht man auch keine. Timing ist halt alles, war es schon immer.
P.S…
… was nötig scheint, da mein Probeleser meint, man könnte heulen bei dem Text. Es gibt halt so Jahre, die sind voll wie Bolle, da passiert so viel, am meisten in einem selbst. 2011 war so ein Hamsterbackenjahr. Aber gerade deshalb war es ja auch so gut. Und die andere Seite der Medaille ist mindestens ebenso voll.
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